Mittwoch, 22. Juni 2011

Halbzeit-Pause

Seit ungefähr fünf Wochen sind wir auf Deutschland-Tournee. Wir besuchen unsere Sponsoren, die seit drei Jahren unsere Arbeit in Jui ermöglichen, indem sie für uns beten und verbindlich finanzielle Hilfe leisten. Und weil sie das so gerne und treu tun, hatten wir uns bereits Anfang des Jahres für den Sommer 2011 zum Besuch angemeldet, um einen Zwischenbericht unseres Ergehens zu geben - live und in Farbe. Es war uns wichtig, persönlich die Kontakte zu pflegen, die auf die Distanz so schwierig zu halten sind. Erfreulicherweise ließen sich alle auf unseren Vorschlag ein und haben uns zu verstehen gegeben, dass wir höchst willkommen sind.

Einen Tour-Plan auszuarbeiten war nicht ganz einfach, die die Sommerferien in jedem deutschen Bundesland anders ausfallen, aber wir haben eine passable Route gefunden, die uns über 16 Etappen durch das ganze Land führt, angefangen in Sachsen, durch Bayern, kurz in Ba-Wü und Hessen, dann in Richtung Rheinland, bis hoch ins Münsterland, von da dann ab nach Elstal in Brandenburg. Später geht es bis in den hohen Norden und anschließend am Harz vorbei zurück in den Rhein-Neckar-Kreis, wo wir die letzten Tage vor der Rückreise Anfang September verbringen werden.

Wegen des ausführlichen Reisedienstes vermeiden wir eigentlich den Begriff "Heimat-Urlaub" und sagen statt dessen "Heimat-Aufenthalt", obwohl wir uns nicht länger als ein paar Tage am selben Ort aufhalten. Tatsächlich versuchen wir in den Sommermonaten Arbeit und Urlaub zu verbinden, und Etliche haben berechtigte Zweifel, ob das überhaupt möglich ist. Wir haben jedoch gleich einen Reiseführer gekauft ("Städte-Touren in Deutschland") und fühlten uns gleich wie richtige Touristen: Einmal quer durch die Republik und wieder zurück; wir sehen schon eine ganze Menge von unserem Heimatland.

Um auch ein wenig Urlaub zu haben, entschlossen wir uns zu einem Experiment: Wir haben uns einen Wohnwagen organisiert, den wir auf den Reisen mitnehmen. So können wir jede Nacht in den gleichen Betten schlafen, müssen nicht aus Koffern leben und können uns sogar selbst versorgen. Die Kinder lieben ihn schon sehr, haben festgelegt wer wann oben im Stockbett schlafen darf und haben sogar eine kleine Ecke zum Spielen, obwohl sie es von Jui gewöhnt sind, viel draußen zu sein. Auch uns Großen tut es gut, eine Konstante im doch sehr wechselhaften Alltag zu haben. Und unsere Gastgeber an den Stationen im ganzen Land haben sich auch ganz toll auf unsere Art zu reisen eingelassen.
Wir haben die erste Hälfte des Heimat-Aufenthaltes in vielerlei Hinsicht als Segen erlebt: Zum einen sind wir auf der langen Reise vor Unfall und Schaden bewahrt worden. (Einmal stand der Wohn-Hänger vier Tage lang so schräg, dass die Kinder nachts aus ihren Betten gekullert sind. Bei der nächsten Station stellten wir fest, dass die hauptsächlich belastete Stütze kräftig angeknackst war und ersetzt werden musste.)
Zum anderen merken wir, was für ein Privileg es ist, so viele unterschiedliche Menschen und Gemeinden kennen zu lernen. Uns wird sehr viel Vertrauen entgegengebracht, und so sind nicht nur wir es, die sich durch Berichte für andere öffnen müssen.

Vielleicht dürfen wir doch "Heimat-Urlaub" sagen, weil wir als Fremde im 'eigenen' Herkunftsland unterwegs sind, Vertrautes neu erleben können, und gelegentlich auch wirklich Entspannung finden.

Wir sind wieder da!

Die letzten Tage vor unserem Abflug nach Deutschland standen ganz unter den Vorzeichen packen, putzen und alles aus dem Haus schaffen, was uns wichtig ist, denn unser Haus wird für die nächsten drei Monate auf sich allein gestellt sein (zusammen mit unserem Kater Mau) und sollte doch möglichst wenig Interessantes für eventuelle Einbrecher bieten!

Nachdem alles in acht Koffer verstaut, das Haus sauber und ordentlich und unsere Arbeiter, Doris und Foday, unsere letzten Vorräte unter sich aufgeteilt hatten, ging es am Montag den 30. Mai gegen 11h los in Richtung Flughafen. Wir hatten uns den Tag eigentlich relativ entspannt vorgestellt und hatten extra viel Zeit für alles eingeplant, was sich auch als sehr sinnvoll herausstellte. Bei strömendem Regen nahmen wir noch unsere letzte Malzeit in Sierra Leone ein um dann zum "Watertaxi" zu fahren, wo wir uns mit Brother Hans und Sister Aisha verabredet hatten, zwecks Schlüsselübergabe. (Kleine Anmerkung: um von Freetown nach Lungi zum Flughafen zu kommen, muss man einen Fluss, der ins Meer mündet, überqueren. Zu diesem Zweck stehen einem verschiedene Boote oder ein Helikopter zur Verfügung, Daniel hat schon mehrere Male das Watertaxi genommen und es hat sich bewährt!)

Wir waren mit die ersten und mussten nicht lange warten und konnten als ganze Familie ins das erste Boot einsteigen. Mit vollspeed ging es Richtung Lungi, doch nach etwa 200 Metern gab es einen lauten Knall und der Motor war kaputt. Der Fahrer versuchte noch mehrere Male den Motor wieder in Gang zu bringen, doch schneller als Schrittgeschwindigkeit konnte er nicht mehr fahren. Die Passagiere wurden langsam unruhig, die Afrikaner griffen sich fast panisch an die Schwimmwesten, eine Frau bat Daniel sogar ihren Mann anrufen zu dürfen, was auf dem offenen Meer allerdings unmöglich war! Einige bereits Afrika-erfahrene lächelten nur und wieder andere regten sich furchtbar über die Situation auf. Für Anna und Paul war es ein großes Abenteuer! Inzwischen hatte uns schon das Gepäckboot und das zweite Taxi überholt und wir dümpelten noch immer in der Mitte des Flusses herum. Nach einiger Zeit gab der "Kapitän" auf und bat uns in das zweite Taxi, welches schon wieder auf dem Rückweg war, umzusteigen - auf offener See mit Kindern und Handgepäck! Vom Anlegeplatz gibt es noch einen Shuttle-Bus, der einen zum Flughafen bringt und wie kann es anders sein, auch diesen Bus verpassten wir und mussten nochmals 10 Minuten warten.

Wir erreichten den Flughafen gerade noch rechtzeitig zum Check-in, mussten nur zwei von unseren acht Koffern öffnen und konnten uns danach direkt in die Boarding-Schlange einreihen. Seit neustem gibt es auf dem Rollfeld einen Bus, der einen die 20 Meter zum Flugzeug fährt. Wir kamen gerade aus der Handgepäckskontrolle und wollten in den Bus steigen, als die Türen von eben diesem nicht mehr auf gingen. Also entschlossen wir uns die 20 Meter zu laufen - bei strömendem Regen!

Der Flug war nicht sehr spektakulär, die Kinder haben die meiste Zeit geschlafen, Daniel überhaupt nicht. Zum Frühstück gab es Joghurt, den Anna und Paul sehr lecker fanden, den Anna jedoch nicht vertragen hat (sie haben beide seit zwei Jahren keinen Joghurt mehr gegessen!). Kurz vor der Landung nahm sie sich die Spucktüte, ohne das wir darüber je gesprochen hätten! Wir vermuten mal, dass das Conni-Buch Wirkung gezeigt hat!

In Brüssel traf uns ein Schock: es regnete und war kalt. Unsere Hoffnung lag nun auf Frankfurt, doch als wir im Landeanflug waren, verschwand sie - es regnete und war kalt! Dabei hatten wir gehört, dass es in Deutschland sooo heiß sein sollte.

Wir wurden herzlich von unseren Eltern in Schriesheim empfangen - mit leckeren Brezeln! Am Mittwoch ging es dann erst einmal "warme " Kleidung kaufen. Anna und Paul freuten sich besonders an den Socken und den festen Schuhen. Dass Paul im Einkaufszentrum dann erst einmal "verloren" gegangen ist, soll hier nur am Rande erwähnt werden. Nach seiner Aussage hat ihn eine Frau auf englisch angesprochen, nachdem er auf deutsch nicht reagieren wollte - möglich wäre es.

Mittwoch, 1. Juni 2011

Au Backe

Diesen Tag werde ich so schnell nicht vergessen! - Sonntag morgens, irgendwann bevor ich die Kanzel erobere, um die vorletzten Teil meiner Predigtreihe zum Vater Unser zu halten, nötigt mich mein junger Kollege dazu, ihm einen Teil der Beerdigungsliturgie am Nachmittag abzunehmen. Der Senior-Pastor, unser Reverend sei nicht da, ob ich einspringen könnte? Ich denke an mein erfolgreich abgeschlossenes Vikariat. Und an den Mangel an Praxiserfahrung in bestimmten Bereichen der pastoralen Praxis. Ich sage zu.

Als ich am Nachmittag 20 Minuten vor Beginn zur Gemeinde komme, sind schon viele gekommen. Der Sarg steht in einem kleinen Vorraum - offen. Ein kurzer Blick bestätigt meine Vermutung: Ich habe den Verstorbenen nicht gekannt, überhaupt war er kein Gemeinde-Mitglied, dass sich besonders lautstark hervor getan hat, wie unser Senior-Pastor der Gemeinde erklärt hatte. Aber allen finanziellen Verpflichtungen sei er gewissenhaft nach gekommen!
Im Vorraum schwebt ein aufdringlicher Duft, und ich muss daran denken, das der Todesfall bereits vor über einer Woche bekannt geworden war. Schnell eile ich zu meinem Platz, vorne bei meinem jungen Kollegen. Er geht mit mir das Programm durch, als unser Senior schnellen Schritts durchs Gemeindehaus eilt. Erleichterung! Als die Zeit gekommen ist, geht er mit uns allen zum Sarg, der duftumwölkt im Vorraum steht, sammelt die Trauergäste um uns und hält eine kurze Trauerrede; 20 Minuten mehr Zeit mich darüber zu vergewissern, dass ich den Toten nicht gekannt habe. Ich bin mir da inzwischen ganz sicher, denn ich habe die ganze Zeit direkt neben ihm gestanden. Als sie endlich den Sargdeckel zuklappen, wird noch eine gute Portion Lavendel dazu gegeben. Immerhin wird der Sarg noch über eine Stunde lang in der Kapelle in unserer Nähe stehen. Am Kopf- und am Fußende stehen den ganzen Gottesdienst über zwei aus dem Männerkreis und geben dem Verstorbenen das Geleit. Sie werden immer wieder von weiteren Freiwilligen abgewechselt.
Als ich mich auf das Abschlussgebet einstelle, beugt sich der Reverend zu mir herüber und flüstert mir zu, nach dem Gebet könne ich gehen. Erleichterung, zunächst. Dann denke ich an mein Vikariat und gehe mit zum Friedhof. Eigentlich will ich mich dem Trauermarsch anschließen, aber die Pastoren lassen mich nicht, wollen lieber mit mir im Auto fahren. Diesmal halten wir den ganzen Verkehr auf und produzieren einen stundenlangen Stau auf einer Hauptverkehrsstrasse.

Auf dem Friedhof wird mir plötzlich klar, warum der Chef mich heimschicken wollte: Die Gräber sind wild verstreut, keine Wege, immer wieder stolpern wir durch Absenkungen im Erdreich, es sind fast keine Grabsteine vorhanden; der Begriff "Gottes-Acker" hat sich für mich seit heute neu definiert. Am Grab angekommen staunen die Totengräber nicht schlecht: Die sind mit einem Sarg gekommen! Es ist eine christliche Beerdigung! - Au Backe, jetzt heißt es schaufeln, was das Zeug hält! Muslims werden in der Regel einfach in einem Leinensack beerdigt, die drei Arbeiter müssen einen guten halben Meter nachgraben. Die rote Erde fliegt uns nur so um die Ohren, aber keiner der Trauergäste kann den Blick von den Arbeitern abwenden. Als uns Knochenreste um die Ohren fliegen, stört das scheinbar noch niemanden, aber als vor den Füßen der Schwester des Verstorbenen ein Unterkiefer landet, wird die Versammlung unruhig.
Eine halbe Stunde und gut 4 Choräle später beschließt der Reverend, dass es genug sei, der Sarg könne abgesenkt werden. Wo sind die Seile? - Au Backe, jetzt müssen zwei der Totengräber in die Grube steigen (unter die Holzkiste!) und den Sarg langsam hinunter lassen. Auf halber Strecke - der Sarg hat sich bereits in dem viel zu engen Loch verkantet - wird uns bewusst, dass das schmalere Fußende des Sargs zwar locker in die Grube passt, aber das breitere Kopfteil niemals absinken kann. Die Jungs in der Grube werden langsam nervös. Der Sag wird leicht angedreht, doch halt: Habt ihr ihn zugenagelt? - Au Backe, jetzt heißt es nachdenken, Scharniere suchen und sich für die richtige Richtung entscheiden. Es rumpelt ein klein wenig, aber dann sehen wir den einen Arbeiter aus der Grube hüpfen, der andere kommt gleich hinterher.

Reverend spricht die Beerdigungsliturgie, und als er "Staub zu Staub" sagt und währenddessen die Schwester des Verblichenen (nicht die beiden Ehefrauen!) mit einem Schäufelchen rote Erde in das Grab schütten will, ertönen aus ihrer rechten Hosentasche laute Reggae-Beats in einer Lautstärke, dass der ganze Friedhof etwas davon hat. Aus den Augenwinkeln sehe ich einige Jugendliche aus dem Chor mit den Hüften schwingen. Die Trauernde überspielt diese Peinlichkeit mit einem lauten Schluchzen und wird von ihrem Ehemann gestützt vom Platz getragen. Sogleich schaufeln die Arbeiter die Grube zu. Die kommende Regenzeit wird die Stelle gut auswaschen und für eine weitere Absenkung mitten auf dem Gottesacker von Calaba-Town sorgen. Der Reverend kommt an mir vorbei: "Ich glaub' wir sind hier fertig!" - Au Backe!